Den BRIC-Staaten, nämlich Brasilien, Russland, Indien und China, wurde vor 20 Jahren ein fulminantes Wachstum vorhergesagt. Was ist daraus geworden und wie steht es um die einstigen Stars? Während Brasilien und Russland sich als Sorgenkinder etabliert haben, stehen die Zeichen in Indien auf hohem Wachstum. Das Schwergewicht China verliert aktuell an Dynamik. Der Fall Evergrande kommt hinzu.
Wie steht es um die BRIC-Staaten?
Vor 20 Jahren wurde der Begriff „BRIC“ geboren. Er steht für die aus Brasilien, Russland, Indien und China bestehende Gruppe an wirtschaftlich und zum Teil politisch aufsteigenden Ländern. Wie steht es heute um diese damals vielversprechenden Nationen? Das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts war ein ziemlicher Kontrast zur berauschenden ersten Dekade, die bis auf die Große Finanzkrise für alle vier Länder sogar besser als erwartet ausfiel. Über die vergangenen zehn Jahre hinweg hat der einst glänzende Stern über den BRIC-Staaten aber an Strahlkraft verloren. Sowohl für Brasilien als auch für Russland war die Wirtschaftsleistung ab 2010 sehr enttäuschend. Beide Länder waren und sind sehr stark vom weltweiten Rohstoffzyklus abhängig. Fallende Rohstoffnotierungen begrenzten ihre Wachstumsaussichten. Mängel in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung kamen hinzu. Indien wiederum hat zwar in den letzten Jahren deutlich enttäuscht, entwickelt sich aber im Großen und Ganzen so wie Anfang dieses Jahrhunderts erwartet. Im Gegensatz dazu deutet die grundsätzlich anhaltende Stärke der chinesischen Wirtschaft darauf hin, dass sie ihr Potenzial ausschöpft. Chinas Wirtschaftsleistung ist mit mehr als 14 Billionen US-Dollar mehr als doppelt so hoch wie die der anderen drei BRIC-Länder zusammengenommen.
Eines aber wird bis zum heutigen Tage deutlich. Es fällt den genannten Staaten schwer, das marktwirtschaftliche Design ihrer Ökonomien so auszurichten, dass sie auf Augenhöhe mit ihren westlichen Konkurrenten stehen. Auch die Aktien-, Renten- und Währungsmärkte haben im Vergleich zu den G7-Ländern noch nicht den entsprechenden Reifegrad. All das hemmt nicht nur die Kapitalströme, es behindert letztlich Auslandsinvestitionen und damit auch Produktivitäts- und Wohlfahrtsgewinne für breite Bevölkerungsschichten. Die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung in vielen Schwellenländern wie den BRIC-Staaten ist ein weiteres Problemfeld.
Mind the "Trap"
Es ist eine bekannte Geschichte: Die Schwellenländer wachsen in der Regel mit höheren Raten als die „alten“ Industrieländer. Noch ist ihr Wachstumspotential höher. Der IWF erwartet für die Schwellenländer (Developing Economies) in diesem Jahr ein reales BIP-Wachstum von 6,3 %, 2022 dann von 5,2 %. Für die Industrieländer (Advanced Economies) liegen die entsprechenden Raten bei 5,6 % bzw. 4,4 %. Den Aktienmärkten der Schwellenländer kommt das höhere Wirtschaftswachstum aber nicht (immer) zugute. In den letzten gut zehn Jahren haben sich die Schwellenländer-Aktienmärkte gegenüber dem Welt-Aktienmarkt deutlich schlechter entwickelt. Insbesondere im Jahrfünft zwischen 2011 und 2016. Ein starker, aufwertender US-Dollar und schwache Rohstoffnotierungen waren doch eine zu starke Belastung. Seither konnten die Schwellenländermärkte immerhin einigermaßen Schritt halten. In diesem Jahr jedoch wieder nicht. Seit Jahresanfang trat der breit gefasste MSCI Emerging Markets Index (MSCI EM) auf der Stelle; die Aktienmärkte in den USA oder in Europa (jeweils gemessen am MSCI-Index) konnten 20 % zulegen.
Es galt also wieder einmal die alte Regel, dass man an den Aktienmärkten wirtschaftliches Wachstum nicht „überbezahlen“ darf. Denn entscheidend ist nicht, wie hoch die Zuwachsraten einer Volkswirtschaft sind, sondern wie stark die Gewinne der börsennotierten Unternehmen steigen und welchen Pfad die Eigenkapitalrendite (Return on Equity) einschlägt, wie solide ihre Bilanzen und damit die Verschuldung (Leverage) sind, und ob es ihnen infolgedessen gelingt, ihren Buchwert je Aktie zu steigern. Mit Blick auf solche Maßstäbe können zwar durchaus einige Unternehmen aus der BRIC-Region in der internationalen, von US-Unternehmen angeführten Liga mitspielen, aber die Mehrheit schafft es nicht. Für die nächsten 12 Monate wird für den MSCI Emerging Markets Index ein Gewinnzuwachs je Aktie von durchschnittlich 4 % erwartet. Das ist vor allem China zu verdanken: China trägt mit über 33 % Gewicht und einem erwarteten Gewinnwachstum von über 13 % quasi alleine zur Gewinnsteigerung bei. Russland und Brasilien werden vermutlich Gewinnrückgänge verzeichnen. Die für den US-Aktienmarkt erwarteten Gewinnzuwächse liegen auf Einjahres-Sicht bei 6,3 %, für Europa etwas darunter. Richtig ist aber auch, dass die Aktienmärkte der Schwellenländer in der Regel deutlich günstigere Bewertungskennzahlen aufweisen. Die durchschnittliche Aktie im MSCI China Index als auch im MSCI Emerging Markets Index wird mit dem rund 13-fachen der für das kommende Jahr erwarteten Gewinne gehandelt. Russland oder Lateinamerika liegen bei diesen Kennziffern im einstelligen Bereich. Die so errechneten Kurs-Gewinn-Verhältnisse amerikanischer Aktien (MSCI USA oder S&P 500) liegen bei über 20, für den MSCI Europa etwas darunter. Dies spricht auf den ersten Blick für die Schwellenmärkte.
Aber: Vorsicht vor der „Bewertungs-Falle“ (Value Trap). Auf die überragende Bedeutung der Gewinnentwicklung wurde bereits hingewiesen. Weiteres ist zu beachten. Die Indexzusammensetzung in einigen Schwellenländern ist zum Teil auf nur wenige Sektoren konzentriert. Schwächephasen dort können den gesamten Markt beeinträchtigen. Das Beispiel Chinas verdeutlicht dies anschaulich. Die Regulierungsbemühungen der chinesischen Regierung gingen beispielsweise auch zulasten chinesischer Technologiekonzerne wie Alibaba oder Tencent. Sie sind nicht nur prägende Mitglieder im MSCI China Index; chinesische Technologiewerte machen über 17 % des MSCI Emerging Markets aus. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es offen und im Reich der Spekulation, wie tiefgreifend die Regulierung in China die Geschäftsmodelle der betroffenen Unternehmen verändert. Wenn es wirklich nur um Datenschutz und nationale Sicherheits- und Erziehungsinteressen geht („süchtig“ machende Videospiel, „zu teure“ online-Nachhilfe) sind die inzwischen erreichten Kursniveaus und Bewertungen chinesischer Tech-Werte attraktiv und bieten auf mittlere Sicht Potential. Sollte jedoch mehr politischer Regulierungsdruck aufkommen und verändern sich die Geschäftsmodelle nachhaltig, gilt dies nicht. Allerdings dürfte der chinesischen Regierung im Interesse des neuen polit-ökonomischen Ziels eines „gemeinsamen Wohlstandes“ vermutlich wenig daran liegen, Unternehmen die auf Augenhöhe mit ihren US-Wettbewerbern stehen nachhaltig zu schwächen.
Evergrande: (K)ein Lehman-Moment
Für China als bedeutendstes BRIC-Mitglied kommt derzeit einiges zeitgleich zusammen: Die Konjunktur kühlt sich ab, der heimische Aktienmarkt präsentiert sich geschwächt – und nun steht noch der Fall Evergrande vor der Tür. Die China Evergrande Group ist der zweitgrößte Immobilienkonzern Chinas, entwickelt und baut Wohnungen für mittlere und höhere Einkommensschichten. Die Verschuldung liegt bei rund 300 Mrd. USD. Etwa 14 Mrd. USD an Anleihen (Eurobonds, ohne China Mainland) sind ausstehend, also vergleichsweise wenig und Angaben von Bloomberg zufolge weltweit gestreut, ohne offensichtliche Klumpenbildungen. Im Juni war das Unternehmen mit Zinszahlungen in Verzug geraten, es folgten Ratingabstufungen. Das Emittenten-Rating liegt mittlerweile bei CC (S&P), der Ausblick ist negativ. Evergrande wird aber nicht als systemrelevant angesehen; Stresstest der chinesischen Zentralbank zeigten, dass die Eigenkapitalquote der rund 4.000 Banken nur geringfügig zurückgehen sollte, wenn der Anteil notleidender Immobilienkredite steigen würde. Einzelne Banken könnten aber sehr wohl in Schieflage geraten. Auch viele kleinere und mittlere Banken sollen zu den Gläubigern gehören. Das Netz an Kreditgebern wird als intransparent bezeichnet, Schätzungen gehen von 100 bis 150 Banken aus, die Kreditbeziehungen zum Evergrande-Konzern haben. Wie könnten die Reaktionen der chinesischen Regierung aussehen? Eine Zerschlagung des Konzerns mit nachfolgend staatlicher Beteiligung könnte eine Variante sein. Damit könnte Peking den wirtschaftlichen Einfluss und die Bedeutung größer Unternehmen beschränken und staatlichen Einfluss wahrnehmen. Zugleich würde man Aktionäre und Gläubiger nicht komplett aus der Haftung entlassen. So würde ein Signal gesendet, dass die Folgen einer Unternehmensüberschuldung nicht (komplett) sozialisiert werden können. Angesichts der Tatsache, dass etwa ein Drittel der gesamten chinesischen Verschuldung in Verbindung mit dem Immobiliensektor stehen, könnte hier ein Exempel statuiert werden. Wie auch immer: Der Fall Evergrande kommt zur Unzeit, er hat das Zeug, vorübergehend deutlichere Bremsspuren in der chinesischen Konjunktur zu hinterlassen. Vor allem zeigt er auch, dass die Entwicklung in den Schwellenländern unstet verlaufen kann. Wirtschaftliche Aufholprozesse sind stets mit politischen und ökonomischen Risiken behaftet.
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